Hellmut Seemann war in den Jahren 2001 bis 2019 Präsident der Klassik Stiftung Weimar – er ist mit Leib und Seele verdienstvoll in der zweitgrößten Kulturstiftung der Bundesrepublik Deutschland tätig gewesen. Martin Kranz ist Intendant und künstlerischer Leiter der „ACHAVA – Festspiele Thüringen“, des jüdisch – interkulturellen Festivals, das er 2015 ins Leben gerufen hat. Anderen ist er dadurch bekannt, dass er das „Weimarer Spiegelzelt Festival“ begründet hat, dessen Intendant er ist. Heute waren sie in der Klasse 9a zu Gast, um uns das Leben des Naftali Fürst nahezubringen – ein ungewöhnliches, beeindruckendes Leben, dem wir folgen durften. Ab 1942 musste die Familie – Naftali,
sein großer Bruder Shmuel und seine Eltern – in einem Zwangsarbeitslager in Sered leben; Anfang 1944 wurde die gesamte Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert, dort waren die Brüder von den Eltern getrennt. Ihnen wurde eine Nummer in den Arm tätowiert. „Damals verlor ich meinen Glauben an Gott“, schreibt Naftali. Nachdem die Schutzstaffel (SS) Auschwitz im Januar 1945 räumt, werden der 13-jährige Naftali Fürst und sein 14-jähriger Bruder Shmuel in einem Todesmarsch zum KZ Buchenwald getrieben. Tagelang sind sie bei Minusgraden unterwegs, zunächst zu Fuß, dann in einem offenen Viehwagon und nach Ankunft in Buchenwald kommen sie in den Kinderblock 66 im ‚Kleinen Lager‘. In bewegender Weise beschreibt Naftali Fürst die erschütternden Erlebnisse:
„Als wir in Buchenwald ankamen, wurde ich in den sogenannten Block 66 geführt. In diesem komplett überfüllten Kinderblock wurden 900 Kinder untergebracht. Hier wäre ich beinahe gestorben. Ich war an einer schweren Lungenentzündung erkrankt und hatte das Bewusstsein verloren. Meinem Bruder wurde deshalb gesagt, er solle mich in den Krankenbau bringen. Das lehnte er ab, denn wir wussten, dass von dort keiner lebend zurückkam. Die Kranken wurden von den Deutschen abgeholt und ermordet. Zum Schluss blieb ihm nichts anderes übrig, als mich auf die Krankenstation zu bringen, wo ich mich etwas erholte. Aus mir unbekannten Gründen wurde ein Teil der Kranken in das Lagerbordell von Buchenwald gebracht. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte und fürchtete, man würde uns von dort aus in den Tod schicken. Weil ich ein netter Junge war, verwöhnten mich die Frauen und gaben mir Brot und Schokolade. Dort gab es auch einen gewöhnlichen Arzt und ich konnte Essen für meinen Bruder aufsparen. Am 11. April 1945 wurden wir befreit. Jedes Mal, wenn ich daran denke, muss ich ein wenig lächeln, denn nicht jeder kann von sich behaupten, dass er in einem Bordell befreit wurde. Ich sage immer, dass man viel Glück haben muss, um die Dinge, die ich durchgemacht habe, zu überleben. Ich hatte immer wieder Glück, habe viele Wunder erfahren und mein Überlebenswillen war sehr ausgeprägt. Mit meinem Bruder zusammen zu sein, gab mir die meiste Kraft um zu überleben.“
Naftali Fürst
Naftali, sein Bruder und die Eltern überlebten den Holocaust und emigrierten schließlich nach Israel. Dort war Naftali Fürst als Fotograf, Fahrlehrer und Werksleiter tätig, bevor er in den Ruhestand ging. Heute lebt er in Haifa, ist Vater der Künstlerin Ronit Fürst und hat vier Enkelkinder. Naftalis Fürst und sein Bruder schrieben eine eindrucksvolle Kurzbiografie, in der sie ihre Leiden und die traumatischen Erlebnisse dokumentierten. Die Schilderungen reichen von dem Augenblick, als ihre Familie auseinandergerissen wurde, bis zu ihrem Wiedersehen nach dem Krieg, nachdem sie die Vernichtungslager und den Todesmarsch überlebt hatten. Bis sie zu diesem Zeitpunkt haben sie ihre Erfahrungen fast fünfzig Jahre lang für sich behalten.
Geschichte aufleben zu lassen, indem die rassistische Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus transparent gemacht und gleichzeitig ein Menschenschicksal sensibel und einfühlsam dargelegt wird – das war das Anliegen dieses Besuchs von Martin Kranz und Hellmut Seemann. Gerade in unserer gegenwärtigen Lebenswelt, in der fundamentale Ängste wieder aufleben, haben hunderttausende Menschen Gesicht für ein weltoffenes Deutschland gezeigt – gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt, für Akzeptanz, Respekt und Toleranz. Wir sind dem Lebensweg des Naftali Fürst nachgegangen. Martin Kranz hat abschließend die Frage eindringlich formuliert:
„Wie wollen wir miteinander leben? Es ist dringlich und notwendig, über die Gestaltung unserer Zukunft nachzudenken.“
Herzlichen Dank an Sie beide! Camille Mannschatz